Die Nacht ist ein geschlossener Raum

von Stella Pfeifer

Die Nacht ist geöffnet. Sie schließt um 4:32 Uhr. Bis dahin ist alles möglich, alles kann geschehen und gar nichts eben auch. Die Nacht ist geöffnet, Else hat die Tür aufgeschlossen, zuvor den Tresen abgewischt, Jupiter an seinen Platz gestellt und selbst einen Limooncello getrunken, schnell runter, na gut, noch einen. Die Nacht ist geöffnet, alle bereiten sich vor und dann, ganz erwartbar, ein Knall. Da kommen sie, die Horden. Else ist bereit.

Sybille kennt die Nacht seit Jahren. Sie ist zufällig in ihr gelandet, als es dunkel wurde. Sie war geblendet von dem Schwarz, sah keine Konturen, nur eine dunkle Masse – und dann war sie plötzlich da. Lene war gerade eingeschlafen, auf Sybilles Arm, daneben die linke Brust noch entblößt. Die Tochter wenige Tage alt und hungrig, so hungrig. Sybille hatte keinen Rhythmus mehr, damals. Das, worauf sie sich verlassen konnte, was ihr Orientierung gab, war das Licht vor ihrem Fenster: hell, dunkel, Dämmerung. Auf dem Tisch standen noch die Blumensträuße. Alles Gute zur Geburt, jetzt seid ihr komplett, ein Baby, wie schön, ein Wunder.

Sybille war wund. Wund an den Brüsten, wund zwischen den Beinen, eine Geburt, das ist Krieg. Der ist jetzt zwar gewonnen, Lene ist da und wundervoll. Und dennoch ist Sybille in der Nacht gelandet. Hat sich erst umgeschaut, sich dann auf den weichen Barhocker gesetzt und bevor Sybille etwas sagen konnte, kam eine Frau auf sie zu, rote Dauerwellenkurzhaarfrisur, blaues Paillettentop, etwas Lipgloss. „Willkommen in der Nacht, hier kostet kein Getränk etwas, du bezahlst schon genug und die einzige Regel lau- tet: Keine doofen Sprüche. Limooncello? Ist alkoholfrei.“ Else hat auf keine Antwort gewartet, sie kennt sie doch eh, stattdessen zwei kleine Gläser vor Sybille auf den Tresen gestellt, darin eine funkelnde blassgelbe Flüssigkeit. Schon damals hat Else immer mitgetrunken, volle Solidarität.

All das ist lange her. Sybille kennt die Nacht und ihre Gäste, kennt die Dunkelheit und das Funkeln in den Ecken, kennt die Gesichter, die neu sind, die, die nach einer Pause wiederkommen, erinnert sich an jene, die schon lange nicht mehr hier waren, fragt sich, wie es denen wohl geht. Sybille kommt fast täglich. Ein kurzes Flackern, dann erscheint Ruth.

Ruth ist neu hier. Diese Nacht ist ihre erste und sie weiß nicht, wie ihr geschieht. Sie weiß nicht, wie sie hierhergekommen ist. Sie weiß auch nicht, wie man wieder verschwindet. Also bleibt sie und hofft, zwischen den vielen Frauen nicht aufzufallen. Ruth, das sagen alle, ist ein strategischer Mensch. Sie plant mit Ziel und das Ziel ist selten nur eines – Ruth kombiniert und das nicht ohne Stolz.

Kuchen backen, den, den die Chefin so mag, kurz vor den Gehaltsgesprächen. Der Nachbarin mit der größeren Wohnung die alten Blumenkästen schenken, dabei subtil nachfragen, was denn die Wohnungssuche so mache. Schwanger werden, ein Kind bekommen, in der Elternzeit herausfinden, wie es beruflich weitergehen soll. Silke, Ruths Mutter, würde sagen: „Jetzt hat das Ruthchen wieder zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!“ Aber in der Nacht gibt es keine Fliegen. Und Ruth weiß nicht, wohin mit sich. Wenn sie ehrlich ist, dann weiß sie das schon eine kleine Weile nicht mehr.

Als Leon nicht aufhörte zu schreien, schaute Ruth auf das kleine Gesicht, das sehr alt und sehr jung aussah, und war ratlos. Wer ist dieser fremde Junge, den sie versucht, in den Schlaf zu wiegen? Als die Wäsche sich häufte und der Staub sich sammelte, hatte sie noch Hoffnung – alles sei schließlich nur eine Phase, so sagen doch alle. Soll das etwa Mut machen? Als Leon dann anfing, alle zwei Stunden aufzuwachen, fragte sich Ruth: Was habe ich mir nur gedacht?

Oh, hat sie das gerade laut gefragt?

„Du hast dir das gedacht, was sich viele Frauen gedacht haben: Oh, ein Baby. Wie süß“, sagt Sybille. „Du hast dir gedacht: Ein Baby, das macht mein Glück perfekt“, sagt Tina. „Und wenn dir überhaupt ein kritischer Gedanke kam, dann dachtest du bestimmt: Die anderen Mütter machen das eben nicht richtig, aber dir macht keiner was vor, dir wird alles gelingen, du bist schließlich stresserprobt und organisiert“, sagt Rike. Und Else, freundlich routiniert, sagt: „Willkommen in der Nacht. Hier sind die Getränke kostenlos, du bezahlst schließlich schon genug und die einzige Regel lautet: Keine doofen Sprüche. Limooncello?“ Noch bevor Ruth erwidern konnte, dass sie gerade keinen Alkohol trinke, das Stillen und so, tönt es laut in der Nacht: „Ist alkoholfrei.“

Und schon ist Ruth mittendrin. Die Nacht um sie herum, ein Ort wie ein Sonnensystem. Ruth nippt an ihrem Glas, unsicher, sie schaut in die Gesichter, sieht in den Ecken der Nacht die Sterne, die Frauen, so viele Frauen, jede so komplex und einzigartig wie ein eigener Mond, in Gespräche vertieft oder gemeinsam still und sie fragt in die Runde, nicht ohne Ehrfurcht: „Wo bin ich hier?“ 

Tina antwortet zuerst. Seit etwa einem halben Jahr geht sie in die Nacht, immer dann, wenn sie es schafft, wenn es möglich ist, vor allem: Wenn sie es besonders braucht. „Das ist die Nacht. Sie ist schwer zu beschreiben.“ – „Und wenn du es versuchst?“, hakt Ruth nach, nicht bittend, eher fordernd. „Ein Versuch, das trifft es eigentlich ganz gut. Die Nacht ist ein Versuch“, mutmaßt Tina. Auftritt Sybille: „Herrje, so kryptisch muss das doch alles gar nicht sein. Die Nacht ist in erster Linie eine Kneipe. Das kann man schon so sagen, das muss man vielleicht sogar. Frauen, insbesondere Mütter, gehen in Kneipen.“ Else, und die muss es wissen, sagt: „Das hab’ ich noch nie verstanden, weshalb man immer alles erklärt haben will. Ich bleib dabei, ich sage das seit dem Anbeginn der Zeit: Frag dich nicht, was die Nacht ist. Frag dich lieber, was die Nacht für dich tun kann.“

Else dreht sich um und geht, geht an die andere Seite des Tresens, nimmt Bestellungen an, teilt Spielkarten aus, wirft einen Kniffel, lacht laut. Ihre Haut strahlt, ist voller Falten, ist jung und alt. Wie Leons Gesicht, denkt Ruth und sagt dann laut zu den anderen und nickt dabei rüber zu Else: „Wer ist sie?“ – „Else ist die Wirtin der Nacht“, sagt Sybille und Rike und Tina nicken, als wäre das eine ausreichende Antwort. Aber Ruth hat die Frage anders gemeint.

Und jetzt muss hier langsam mal etwas in Gang kommen. „Als ich das erste Mal hier war, konnte ich es kaum fassen. Ich war komplett überfordert. Ich meine, klar, ich war wirklich viel aus. Aber das war alles vor Lene“, erinnert sich Sybille. „Lene ist meine Tochter“, erklärt sie Ruth, die versucht, mitzukommen. „Da war ich gerade noch am Stillen, habe nur kurz meine Augen geschlossen, ich war so, so müde, und schon stand Else vor mir. Und dann waren da all die anderen Mütter. Mütter, die Energie hatten, die laut gelacht haben, ohne Angst, ein kleines Baby könnte aufwachen. Ich konnte es nicht fassen.“

„Ich weiß noch, wie verrückt ich es fand, dass die Nächte plötzlich wieder voll mit Möglichkeiten waren“, sagt Tina und streicht sich erinnerungstrunken eine schwarze Haarsträhne hinter das linke Ohr. An ihrem Ohrläppchen hängt ein kleiner roter Stein. „Sonst waren das Stunden, in denen ich erschöpft war, angeschrien wurde. Naja, für alle war es anstrengend. Auch schön, klar, diese Nähe mit Nova, wie sie ihr kleines Gesicht an meinen Hals drückt. Und trotzdem habe ich mich die meiste Zeit nur allein gefühlt.“ – „Die Einsamkeit bringt die meisten Mütter in die Nacht. Else hat mir mal erklärt, dass diese Leere oft der Wegweiser sei. Wie ein Schalter, der umgelegt werde“, sagt Sybille und schaut dann fragend zu Ruth, während sie eine Olive mit dem Zahnstocher aufspießt und sich in den Mund schiebt. Mit halbvollem Mund: „Welcher Schalter war es bei dir?“ 

Ruth fühlt sich ertappt, aber Flucht ist eh nicht so ihr Ding, also raus damit: „Ich weiß einfach nicht, wie es gehen soll.“ Fast schon trotzig setzt sie sich mit an die Bar, überkreuzt ihre Beine, verschränkt die Arme. „Was genau?“, fragt Tina. „Das mit der Mutterschaft. Und ich meine nicht mal den Haushalt, den habe ich gerade eh aufgegeben. Ich meine eher: Wie hält man nur diese Gleichzeitigkeit aus?“ Ruth ist sich nicht sicher, aber sie sieht in den beiden Gesichtern vor ihr so etwas wie Mitleid. Oder ist es Verständnis? Es ist Verständnis, denn Sybille nickt und sagt: „Das hört nicht auf. Du willst überall sein, nur nicht bei deinem Kind, du willst nirgendwo lieber sein als bei deinem Kind. Die meisten Mütter hier kennen diesen Schmerz und ihn auszuhalten, ist eine Kunst. Und genau dafür gibt es die Nacht.“

„Ist dir noch nicht aufgefallen, dass es hier keine Schmerzen gibt?“, fragt Tina. „Und wann hast du zuletzt an dein Kind gedacht?“ Ruth denkt nach und stellt fest, dass sie die letzten Minuten – oder waren es Stunden? – so fasziniert, so überrascht, so abgelenkt war, dass ihre Gedanken sich verschoben hatten, fast schwerelos waren. Die Anziehung eine andere, die Schwerkraft ausgehebelt. Ruth merkt, wie sie sich entspannt. „Kann ich noch einen Limooncello haben?“ Und Else schenkt bereits ein.

„Nichts hätte mich auf all das vorbereiten können. Wir haben einen Wickeltisch gekauft, Windeln, Vorgespräche mit der Hebamme geführt. Ich habe alles geplant: Elternzeit, wer sich um was kümmert, ich habe Suppe gekocht und eingefroren und war in der Apotheke, um Bockshornkleesamen zu kaufen. Aber ich war unvorbereitet. Niemand hat mich gewarnt. Keine Frau hat mich gewarnt.“ – „Hättest du ihnen denn geglaubt?“, fragt Sybille. Und Ruth, fast schon anklagend: „Hätten Sie es nicht versuchen müssen?“ – „Niemand muss irgendwas, hier ist keine keiner etwas schuldig. Die Wahrheit ist wahrscheinlich auch: Wer gewarnt werden will, muss zuhören. Ich stehe hier seit Jahrhunderten hinter der Theke und lass mich dir eins sagen: Wenn ich etwas gelernt habe, dann: Verbindung gibt es erst danach. Kann es nur danach geben. So unglaublich sind diese Wochen und Monate nach der Geburt. Die Fähigkeit zu begreifen, kommt erst mit dem Kind.“ Else bedient die nächsten Frauen, wendet sich anderen Gesprächen zu. „Seit Jahrhunderten?“ Ruth schaut Sybille zögerlich an. Sybille zuckt nur mit den Schultern. „Seit wann bekommen Menschen Kinder? Else ist zu bescheiden, wenn du mich fragst.“

Ruth beobachtet, wie immer mehr Frauen die Nacht betreten, erst ein Flackern, dann eine Erscheinung. Manche begrüßen sich lautstark, andere schauen sich vorsichtig um, hilflos. Auch sie haben es nicht gewusst. Auch sie wussten es nicht besser. Aber jetzt, jetzt sind sie alle verbunden. Ein System.

„Womit hadert ihr, was war euer Auslöser“, will Ruth jetzt wissen. Doch dann: Ruth spürt Leons Schrei in ihrem mittelsten Punkt, tief in ihrem Zentrum, er strahlt bis in ihre blonden Haarspitzen, eine Supernova, ein explodierender Stern. Sie schaut sich um, wo ist mein Kind? Ah, Erleichterung, da ist Leon. Er schreit sie an, das Gesicht jung und alt, sein Blick nicht ohne Liebe. Plötzlich war es hell geworden. Und die Nacht ist ein geschlossener Raum.


// Erschienen in Literaturbote 144, Dezember 2023. Monothematisches Heft zum Thema "Realitätsverlust".